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Writers in exile
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KRISEN UND UNDARSTELLBARKEIT

PEN/Opp veröffentlicht mit „Krisen und Undarstellbarkeit“ einen neuen Beitrag des syrischen Autors, Intellektuellen und Tucholsky-Preisträgers Yassin Al-Haj Saleh, der ihn am 28. August 2021 in der Gerlesborg-Schule und am darauffolgenden Tag im Museum der Kulturen der Welt in Göteborg als Teil zweier von Clandestino veranstalteten Gespräche vortrug.
Seine Gesprächspartnerin, die Autorin Sara Mannheimer, steht seit Jahren mit Yassin Al-Haj Saleh im Dialog – schriftlich, aber auch in Form von persönlichen Gesprächen in Berlin, wo der Autor heute lebt. Eine über die Jahre gewachsene Nähe und Freundschaft prägen den Kontakt und geben den Gesprächen Tiefe.
Mannheimers Ausgangspunkt ist ihr starker Wille, die lähmende Situation zu verstehen, in der sich syrische Intellektuelle befinden und die von Al-Haj Saleh als „Das Grauenhafte“ des kollektiven Traumas bezeichnet wird.
Trotz des stets präsenten Schreckens der syrischen Wirklichkeit, geht es im Gespräch um die Suche nach alternativen Ausdrucksformen in der Literatur. Yassin Al-Haj Salehs Fähigkeit, syrische Erfahrungen mit einem gewissen Maß an Distanz zu analysieren, weckt Hoffnung. In seinem Beitrag unternimmt er den Versuch, eine intellektuelle Krise zu beschreiben, eine Blockade des freien Wortes – nicht zuletzt auch durch die Intellektuellen selbst. Dabei geht es nicht um Selbstzensur, sondern eher um eine innere Blockade, weil Worte das Grauenhafte nicht zu beschreiben vermögen. Welche Ausdrucksformen bleiben, wenn das kollektive Trauma die Sprache zum Schweigen bringt?

Credits Text: Yassin Al-Haj Saleh Übersetzung aus dem Englischen: Grit Thunemann Foto: Omar Nasser 03 november 2021

Mein Land, Syrien, befindet sich schon mein ganzes Leben lang im Zustand der Krise. Der seit 1963 herrschende Ausnahmezustand wurde 2012 von Antiterrorgesetzen abgelöst. Syrien hat sich in diesen sechs Jahrzehnten von einem diktatorischen Einparteiensystem in eine neue Form des politischen Sultanats mit großem Potenzial verwandelt, sein eigenes Volk umzubringen.

Syriens politische Krisensituation war von Anfang an immer mit einer ebenso chronischen Krise des freien Wortes und anderer Ausdrucksformen verbunden. Wir unterlagen der staatlichen Zensur durch die Baath-Partei; die Meinungsfreiheit wurde stark eingeschränkt. Von einem Dutzend unabhängiger Zeitungen und Zeitschriften blieben ganze zwei „staatliche“ übrig, beide von der Baath-Partei kontrolliert. Öffentliche Versammlungen wurden unter Strafe gestellt. Die syrische Gesellschaft wurde von oben gleichgeschaltet, um dem Staat die vollständige Überwachung aller öffentlichen Aktivitäten zu ermöglichen. Man gründete sogar einen Schriftstellerverband, natürlich ebenfalls kontrolliert von der Baath-Partei.

Die herkömmliche Bedeutung von Meinungsfreiheit besagt, dass sich ihre Unterdrückung in politischen Kräften manifestiert, die Menschen daran hindern, sich Gehör zu verschaffen, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung geltend zu machen und ihre Ideen und Meinungen mit anderen auszutauschen. Diese Unterdrückung der freien Meinungsäußerung im herkömmlichen Sinne hat es in Syrien immer gegeben und ist in vielen Teilen der Welt verbreitet. Doch es gibt noch eine andere, schwerer zu definierende Krise der freien Meinungsäußerung: die Blockade ebenjener; die Unfähigkeit, sich zu äußern, weil die eigenen Erfahrungen nicht ausgedrückt werden können. Das kann passieren, wenn die eigenen Erfahrungen derart extrem sind, dass uns alle uns zur Verfügung stehenden sprachlichen und anderen Ausdrucksformen bei dem Versuch, diese Erfahrungen zu kommunizieren, im Stich lassen. Unsere Ausdrucksmittel befinden sich in einer Krise. Es ist, als würden unsere traumatischen Erfahrungen zumindest vorübergehend unsere Fähigkeit blockieren, uns auszudrücken. Ich bezeichne diese Erfahrungen als „Das Grauenhafte“ (‚al-fazi‘‘ auf Arabisch). Sie fordern unsere Ausdrucksmittel heraus. Das Grauenhafte bezeichnet den gewaltsamen vollständigen oder teilweisen Verlust von Formen oder Darstellungen: von Formen menschlicher Körper, Formen des sozialen Umfelds, Formen von Wohngebieten und zivilen Einrichtungen, was uns zusammen mit dem ungewissen Schicksal von Angehörigen der Fähigkeit beraubt, eigener Verlusterfahrung eine Form zu geben.

Die Literatur hat sich umfänglich mit der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung beschäftigt, doch nur wenig mit der Unausdrückbarkeit oder Undarstellbarkeit. Man könnte sogar sagen, dass Literatur und intellektuelles Leben im Wesentlichen durch eine mehr oder weniger intensive Auseinandersetzung mit äußeren Hürden für die Meinungsfreiheit geformt worden sind, wobei die Freiheit der Meinungsäußerung für die Überwindung dieser Hürden steht. Es bedarf eines Paradigmenwechsels in unserem Handwerk, um mit der gänzlich andersartigen Problematik der Unausdrückbarkeit oder Undarstellbarkeit umzugehen. Ausdruck ist der Prozess der Umwandlung von Erfahrungen in Ideen oder von Leiden in Bedeutung (‚leiden‘ und ‚bedeuten‘ haben im Arabischen die gleiche semantische Wurzel). Darstellung ist Ausdruck durch Form: wir verleihen dem, was wir ausdrücken wollen, eine bestimmte Form oder Gestalt, die entweder unserer eigenen Kulturtradition entspringt oder den vielen anderen Traditionen, zu denen wir heute Zugang haben.

Die Undarstellbarkeit kann entweder daher rühren, dass wir aufgrund der extremen Natur unserer Erfahrungen nicht in der Lage sind, uns in Worten, Farben oder Klängen auszudrücken, oder dass unsere Erfahrungen beispiellos sind und wir sie nicht in geeigneten Formen darstellen können, weil wir in unserem kulturellen Repertoire keine adäquaten Formen für unsere Äußerungen finden, oder dass uns die uns zur Verfügung stehenden Traditionen keine geeigneten Formen anbieten. Ein anderer Grund für die Undarstellbarkeit ist relativ: Wir stellen dar, aber unserer Darstellung fehlt ein Mehrwert oder eine zusätzliche Bedeutung. Die von uns verwendeten Formen schwächen die Erfahrung ab oder entziehen ihr Bedeutung. Starre traditionelle Formen wie beispielsweise Klichees „killen“ Erfahrungen.

Was tun wir, wenn das Ausdrucksvermögen in uns blockiert wird? Es handelt sich hier um eine doppelte Krise; eine in unserem Leben und eine in unserem Handwerk. Was tun wir, wenn wir gefoltert, vergewaltigt, gedemütigt, vertrieben werden, wenn wir unser Zuhause und unsere Lieben verlieren und wir unsere Erfahrungen nicht in Worte fassen können? Sprache versagt, wenn die Erfahrungen extrem und erdrückend sind. Sie versagt auch, wenn es keine Gesprächspartner gibt, die unsere grauenvollen Erfahrungen bestätigen, welche wir dann möglicherweise in Form einer Geschichte wiedergeben können. Unter dem mörderischen politischen Regime, das seit nunmehr 58 Jahren in Syrien herrscht, sind Gespräche und der Dialog aus dem Leben des syrischen Volkes, das zu 96 Prozent jünger als 60 Jahre ist, verschwunden. Nur selten hatte es die Möglichkeit, für sich selbst zu sprechen oder sich selbst zu vertreten und seinen extremen Schmerz zu lindern. Die doppelte Krise hat sich in meinem Leben zweimal ereignet. Ich meine damit, dass ich zweimal eine ungewöhnlich akute Krise innerhalb einer chronischen oder permanenten Krise erlebt habe. Die erste führte mich zu Verhaftung, Folter und langen Jahren im Gefängnis, die zweite zum Verlust geliebter Menschen und ins Exil. Beide waren Teil einer viel größeren nationalen Krise.

Wie reagieren wir auf akute Krisen? Es lassen sich drei Reaktionen ausmachen: zerstörerische Gewalt, unkontrollierbare Tränen und stiller Tod. In Medienberichten aus dem Nahen Osten dominiert in der Regel die Gewalt. Tränen oder der stille Tod werden nicht gezeigt, obwohl sie keineswegs weniger politisch sind als Gewalt. Die Sichtbarkeit von Gewalt hängt mit der Struktur der heutigen Welt zusammen, bestehend aus souveränen Staaten mit Gewaltmonopol und der Logik des Kapitalismus. Der Tod wird in den privaten Bereich verbannt, Tränen noch mehr. Gewalt ist „sexy“, wird von den Medien gezeigt und spektakulär dargestellt, vor allem, wenn sie nicht von „souveränen Staaten“ ausgeübt wird. Wir denken nicht daran, dass Tränen Geschichten erzählen, dass sie ausdrücken, was wir fühlen, wenn uns die Worte fehlen. Wir haben keine Werkzeuge entwickelt, um Tränen zu interpretieren, obwohl wir ihnen immer wieder begegnen. Die Literatur hat sich nicht mit Tränen und dem stillen Tod befasst (dem in der Regel Selbstisolation und sozialer Tod vorausgehen oder der Verlust des Weltvertrauens, wie es Jean Améry, ein Überlebender des Holocaust, über seine Folter durch die Nazis ausdrückte). Dieser Zustand hängt mit der Struktur von Literatur und Trauma gleichermaßen zusammen. Literatur ist in der Regel eine verzögerte Reaktion auf Gewalterfahrungen oder Traumata, insbesondere dann, wenn die Darstellenden selbst traumatisiert sind. Wenn uns das Trauma noch fest im Griff hat, ist es uns unmöglich, unsere Erfahrungen darzustellen. In unserem Teil der Welt weinen Frauen mehr als Männer, weil sie nicht das gleiche Recht auf Sprechakte haben. Ich glaube, auch hier in Europa weinen sie mehr.

Tränen drücken aus, aber sie stellen nicht dar. In der Tat sind auch Gewalt und stiller Tod Ausdruck, aber Ausdruck unserer Reaktionen auf die Ausdrucksblockade. Ihre Ausdruckskraft ist ein Ersatz. Der entscheidende Unterschied zwischen Gewalt, Tränen und stillem Tod einerseits und literarischen, künstlerischen und theoretischen Darstellungen andererseits besteht darin, dass letztere verzögerte Reaktionen sind; sie zeigen sich erst Jahre nach den traumatischen Erfahrungen. Darüber hinaus hat die Darstellung eine kommunikative und soziale Funktion, um die sich eine mögliche Gemeinschaft bilden kann (wir erschaffen Gesellschaft durch Darstellung). Um Gewalt, Tränen und den stillen Tod kann eine solche Gemeinschaft nicht entstehen.

Was wir in Syrien als „Gefängnisliteratur“ bezeichnen, ist eine verspätete Reaktion auf die erste Krise, als zehntausende Menschen verhaftet und gefoltert wurden und viele Jahre in Gefängnissen verbrachten. Ebenso viele wurden bei Massakern getötet oder im Gefängnis von Tadmur, einem Folter- und Todeslager, hingerichtet. Die frühesten Veröffentlichungen erschienen etwa zwanzig Jahre nach dieser Krise und Jahre nach dem Ende ihrer akuten Phase. Es scheint, als ob das Undarstellbare erst zum Ausdruck gebracht werden kann, wenn man sich vollständig vom Trauma gelöst hat. Und das ist das Paradoxe bei der Darstellung von Krisen: Während wir uns in der akuten Phase der Krise befinden, können wir uns nicht ausdrücken, die schockierende Erfahrung ist nicht darstellbar; und wenn wir sie Jahre später darstellen können, entgehen uns zwangsläufig viele Dinge. Unsere Erinnerungen sind unzuverlässig, vor allem dann, wenn es sich um schockierende Erlebnisse handelt. Als verzögerte Reaktion darauf ist unsere Gefängnisliteratur im Wesentlichen Überlebensliteratur, geschrieben viele Jahre nach unseren traumatischsten Erfahrungen. In gewisser Weise ist sie ein Zeugnis der Selbstverteidigung, manchmal durchdrungen von Gefühlen der Herausforderung und Standhaftigkeit. Wenn ich auf das Buch über meine Gefängniserfahrungen zurückblicke, das erst vor zehn Jahren veröffentlicht wurde (etwa 16 Jahre nach meinen 16 Jahren im Gefängnis und 32 Jahre, nachdem ich verhaftet und gefoltert worden war), scheint es mir, als sei ich damit beschäftigt gewesen, meine Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen; dass ich gesund und aktiv aus dem Gefängnis gekommen war und das Gefängnis nun als Objekt einer intellektuellen Darstellung dienen konnte. Ich bin mir sicher, dass ich vieles von dem, was in der Vergangenheit verblasst war, nicht in die Gegenwart bringen, nicht wiedergeben konnte.

Man mag sich fragen, ob die Vorstellung, Gewalt sei eine Antwort auf die Sprachlosigkeit angesichts des Grauenhaften und Undarstellbaren, der Gewalt nicht Legitimität verleiht. Das ist durchaus möglich. Aber die Gewalt ist da. Wir können nicht an sie in Syrien oder Palästina oder im Nahen Osten insgesamt denken, ohne sie mit der Funktionsfähigkeit von Sprache in Verbindung zu bringen, von Dialog und dem, was man „Politik der Vernunft“ nennen kann, bei der Worte, Debatten und Argumente eine wichtige Rolle spielen. Und vor dem Hintergrund, dass diejenigen, die die Menschen am Reden hindern, dabei Gewalt anwenden (möglicherweise mit der Rechtfertigung, diese Menschen, diese Völker, verstünde nur die Sprache der Gewalt), kann es passieren, dass diejenigen, die am Reden gehindert werden und dabei Gräueltaten erleben, möglicherweise auf Gewalt als alternative Sprache zurückgreifen.

Gibt es denn keine alternativen sprachlichen Ausdrucksmittel, die die fehlenden ersetzen können? Das ist der Paradigmenwechsel, den ich weiter oben angesprochen habe. Die Herausforderungen der Undarstellbarkeit sind ein Aufruf zu einer Revolution in der Darstellung. Die Gefängnisliteratur, die sich mit unserer ersten Krise befasst hat, ist keine zufriedenstellende Antwort mehr auf unsere neue Krise und die neuen grauenhaften Erfahrungen der letzten zehn Jahre. Der wesentliche Schwachpunkt unserer Gefängnisliteratur besteht darin, dass sie so lokal, auf unser Land und unsere Kultur beschränkt war. Wir sind jetzt in einer besseren Position, um einen Wandel oder eine Revolution in der Darstellung herbeizuführen. Denn wir verfügen nun über deutlich mehr Erfahrung, zu der wir mehr Abstand haben und wir setzen uns im Exil stärker mit anderen Befindlichkeiten, Sprachen und Wissensquellen, kurz: anderen Traditionen, auseinander.

Die Post-Gefängnisliteratur kann sich hoffentlich unsere neuen Erfahrungen zu eigen machen, ein Bewusstsein für die Ersatzaussagekraft von Tränen, zerstörerischer Gewalt und unsichtbarem Tod entwickeln und durch unsere Akkulturation im Exil neue Ausdrucksformen finden. Es ist ein ständiger Kampf.

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